Ratten: Kulturfolger und Nahrungskonkurrenten des Menschen

Ratten: Kulturfolger und Nahrungskonkurrenten des Menschen
Ratten: Kulturfolger und Nahrungskonkurrenten des Menschen
 
Ratten sind weltweit verbreitet und besiedeln die unterschiedlichsten Lebensräume. Zu den Echten Ratten (Gattung Rattus) gehören etwa 55 Arten, darunter die Hausratte (Rattus rattus) und die Wanderratte (Rattus norvegicus). Von Letzterer stammen die Weiße Ratte, die als Versuchstier eingesetzt wird, und die als Haustier gehaltene Farbratte ab. Sowohl Ratten als auch Menschen sind praktisch Allesfresser, daher sind sie unmittelbare Nahrungskonkurrenten; Ratten verursachen weltweit große Schäden an Nahrungsmittelvorräten. Sie sind auch als indirekte oder direkte Krankheitsüberträger, unter anderem von Pest und Lassafieber, gefürchtet. Ihre Bekämpfung durch chemische Mittel ist nur teilweise erfolgreich.
 
 Ratten — widerstandsfähig und eroberungsfreudig
 
Die wenigsten sind ihnen jemals begegnet, aber jeder kennt die vermehrungsfreudigen und äußerst widerstandsfähigen Nager, die sich im Gefolge des Menschen weltweit ausgebreitet haben und heute die unterschiedlichsten Lebensräume besiedeln. Durch ihre erstaunliche Robustheit und Anpassungsfähigkeit setzen sie die Wissenschaft immer wieder in Erstaunen: Biologen fanden etwa auf dem stark radioaktiv verseuchten Eniwetok-Atoll im Westpazifik, wo die USA zwischen 1948 und 1956 Dutzende von Atombombentests durchgeführt hatten, kräftige, gesunde Ratten, deren Vorgängergenerationen die tödliche Strahlung in ihren unterirdischen Bauen überlebt hatten.
 
Den Echten Ratten (Gattung Rattus) gehören etwa 55 Arten an, die vor allem in Ost- und Südostasien beheimatet sind. Die wenigsten davon sind erforscht, da sie auf Inseln und Inselgruppen oder weitab vom Menschen leben. In unseren Breiten besonders bekannt — und immer noch gefürchtet — sind die Haus- oder Dachratte (Rattus rattus) und die Wanderratte (Rattus norvegicus). Und nicht zu vergessen die Farbratten, deren erstaunliche Karriere als Haustier in den 1980er-Jahren begann.
 
Vom Plagegeist zur gefährdeten Art — die Hausratte
 
Aus ihrer ursprünglichen Heimat Südost- und Südasien wanderte die 16—23 Zentimeter große, grauschwarze bis braungraue Hausratte vermutlich in frühgeschichtlicher Zeit nach Europa ein. Die ältesten Nachweise aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr. stammen aus Pompeji und von der Baleareninsel Menorca, der früheste Beleg aus Mitteleuropa — aus Ladenburg am Neckar — ist rund 400 Jahre jünger. Die Hausratte scheint bereits mit den ersten Entdeckern nach Amerika gelangt zu sein, denn sie ist dort schon 1540 belegt. Der im Volksmund bekannte Name »Dachratte« spricht den Lebensraum an, den die Hausratte als ursprünglich auf Bäumen lebender Kletterer bevorzugt. Aber auch auf den alten Holzschiffen fühlte sie sich wohl und stellte über 90% der sprichwörtlich gewordenen Schiffsratten. In den Mittelmeerländern ist sie auch im Freien anzutreffen; sie haust besonders gern in Obstplantagen oder auf Palmen. Die dämmerungs- und nachtaktiven Tiere, die sich überwiegend von pflanzlicher Kost ernähren, leben in kleineren Rudeln, über deren Sozialgefüge noch wenig bekannt ist. Ratten sind nach etwa drei Monaten (Weibchen etwas später) geschlechtsreif; die Weibchen gebären nach dreieinhalb Wochen Tragzeit durchschnittlich acht, in Ausnahmefällen bis zu 20 Junge — und dies bis zu siebenmal im Jahr. Seit den 1960er-Jahren gilt die Hausratte in Deutschland als nahezu ausgerottet und steht auf der Roten Liste der bedrohten Arten.
 
Zäh und erfindungsreich — die Wanderratte
 
Schon für das zehnte Jahrhundert ist das Vorkommen der 22—26 Zentimeter langen, dunkelgraubraunen Wanderratte, deren ursprüngliche Heimat die Steppengebiete Asiens waren, belegt. Funde in Augusta Raurica (Augst, Kanton Basel-Landschaft) und bei Plön deuten darauf hin, dass sie sporadisch auch früher schon aufgetreten ist. In Europa wurde die Art erstmals 1716 in Dänemark, 1727 auf dem Balkan und 1730 in England beobachtet; 1735 trat sie in Frankreich, 1750 in Ostdeutschland und 1800 in Spanien auf. Bereits 1775 gelangte sie per Schiff nach Amerika. Dank ihrer Anpassungsfähigkeit hat sich die Wanderratte so unterschiedliche Lebensräume wie Keller, Abwasserkanäle, unterirdische Hohlräume, Ställe, Gräben, Deiche und Mülldeponien erschlossen. Dass sie oft in Wassernähe anzutreffen ist, hat ihr die Bezeichnung Wasserratte eingebracht. Der dämmerungs- und nachtaktive Allesfresser nutzt seine Fähigkeiten im Schwimmen, Tauchen und Springen erfolgreich bei der Nahrungssuche: Wanderratten sind geschickte Fischfänger und können selbst frei lebende Vögel erbeuten; belegt sind sogar Angriffe auf hilflose Säuglinge. Offenbar können Rattenrudel sich neue Nahrungsquellen erschließen und diese Fähigkeiten weitervermitteln: Verhaltensforscher stellten bei verschiedenen Gruppen derselben Art unterschiedliche »Traditionen« bei Nahrungssuche und Jagd fest. Wanderratten leben in Rudeln, die bis zu 200 Tiere umfassen können. Die Mitglieder eines Rudels erkennen sich am Geruch und verteidigen ihr Revier energisch gegen andere Gruppen. Das Leben im Rudel bringt Vorteile: So werden etwa die Würfe von mehreren Weibchen gemeinsam aufgezogen und dabei die Rudeltradition, also Verhaltensweisen, die über das ererbte Verhaltensinventar hinausgehen, an Jüngere weitergegeben. Tragzeit, Wurfgröße und Jugendentwicklung der Wanderratte ähneln denen der Hausratte. Die Fruchtbarkeit der Ratten ist differenziert zu betrachten: Zwar kann ein Zuchtrattenpaar theoretisch innerhalb eines Jahres mehr als 800 Nachkommen haben, wild lebende Tiere bringen jedoch wesentlich weniger Junge durch.
 
Vom Ekeltier zum Schmusetier — Farbratten
 
Trotz — oder gerade wegen — der großen Vorbehalte, welche die meisten Menschen gegen Ratten hegen, sind Ratten seit den 1980er-Jahren hoffähig geworden: Die von der Wanderratte abstammende Farbratte war zuerst bei Punks beliebt, die ihr ungewöhnliches Haustier provozierend zur Schau stellten, heute halten auch viele andere Menschen die intelligenten Nagetiere. Und schon 1901 wurden Ratten in England bei Ausstellungen zugelassen, und örtliche Vereine veranstalteten Schönheitswettbewerbe.
 
Als ursprüngliche Rudeltiere sollten Ratten nicht allein gehalten werden. Ein ausreichend großer Käfig — für zwei Tiere mindestens 80 : 50 : 80 Zentimeter — und eine Ausstattung, die der Neugier und dem Bewegungstrieb der Ratten Rechnung trägt, sind Voraussetzungen für eine artgerechte Haltung. Als Grundnahrung ist eine Mischung aus Kaninchen- und Hundetrockenfutter geeignet, ergänzt durch frisches Obst und Gemüse, Kolbenhirse und Nüsse. Um Verschmutzung zu vermeiden, sollte das Wasser in Flaschentränken angeboten werden, die am Käfiggitter befestigt werden können. Bei guter Pflege, zu der auch die liebevolle Beschäftigung mit dem Tier gehört, können Farbratten über drei Jahre alt werden.
 
 Nutztiere und Schädlinge zugleich
 
Es wird oft allzu leicht vergessen: Ratten sind dem Menschen auch nützlich. Die von der Wanderratte abstammende albinotische Weiße Ratte, seit dem 17. Jahrhundert gezüchtet, ist eines der wichtigsten Versuchstiere der Forschung (Albinismus ist ein erblicher Farbstoffmangel, Albinos treten bei vielen Arten, auch dem Menschen, mehr oder weniger selten auf). Die Eignung chemischer Substanzen für Medikamente oder Kosmetika wurde an Milliarden von »Laborratten« getestet. Experimente an Weißen Ratten zeigten auch die erstaunlichen Intelligenzleistungen von Ratten. Aber in den meisten Fällen sind Ratten eben doch Konkurrenten des Menschen und daher Schädlinge — sie richten auch heute noch großen wirtschaftlichen Schaden an, etwa durch die Vernichtung von Feldfrüchten und Nahrungsvorräten. Etwa ein Fünftel der Welternte wird von Ratten und ihren Verwandten gefressen oder ungenießbar gemacht, vor allem in den Entwicklungsländern. Für den Menschen gefährlicher sind Ratten als Überträger von Krankheiten. Das bekannteste Beispiel ist die Pest, die von dem auf Ratten lebenden Rattenfloh durch Biss übertragen wird und zwischen 1347 und 1352 etwa ein Viertel der Bevölkerung in Europa dahinraffte; in Indien starben bei der großen Pestepidemie von 1892 bis 1918 11—12 Millionen Menschen. Während das endemische Fleckfieber ebenfalls von Rattenflöhen übertragen wird, werden die Erreger der Weil-Krankheit (Leptospirose) und des Lassafiebers von den Nagetieren direkt verbreitet; sie werden über mit Urin und Exkrementen von Ratten kontaminierte Lebensmittel vom Menschen aufgenommen.
 
 
Zur Bekämpfung der Ratten werden vor allem in Ködern versteckte chemische Mittel (Rodentizide, von Rodentia, der wissenschaftlichen Bezeichnung für Nagetiere) eingesetzt, die entweder sofort tödlich wirken oder durch die Hemmung der Blutgerinnung innere Blutungen hervorrufen, die dann zum Tod führen. Über den Erfolg oder Misserfolg der Maßnahmen entscheidet nicht zuletzt das Rudelverhalten der Tiere: Wird nämlich ein ausgelegter Giftköder von den ersten Tieren verschmäht, so werden ihn auch die anderen Rudelmitglieder nicht anrühren, wird er aber von den »Vorkostern« angenommen, so fressen ihn alle. Darüber hinaus scheinen Ratten in der Lage zu sein, eine Resistenz gegen häufig eingesetzte Gifte zu entwickeln, sodass ständig neue Chemikalien eingesetzt werden müssen — ein Wettlauf, dessen Ausgang noch ungewiss ist! Dass die Ratten dennoch vielerorts dezimiert oder sogar ausgerottet werden konnten, ist vor allem auf die verbesserten hygienischen Verhältnisse und den Ersatz von Holz und Stroh im Hausbau durch Stahl und Beton zurückzuführen. Trotz der intensiven Bekämpfungsmaßnahmen weltweit gibt es aber auch heute noch regelrechte Rattenparadiese, etwa Kalkutta oder Bombay oder Teile von New York. Und noch 1977 wurde die Rattenpopulation von Rom auf 15 Millionen Tiere geschätzt!
 
 Ratte und Mensch — eine schwierige Beziehung
 
Für die meisten Menschen sind Ratten mit Angst und Ekel besetzt. Auslöser für diese Gefühle scheint vor allem der nackte Schwanz zu sein, der bei Hausratten so lang wie der Körper, bei Wanderratten dagegen kürzer ist. Die negativen Erfahrungen, die Menschen mit ihren Begleitern und Konkurrenten jahrhundertelang machten, schlugen sich auch in Märchen und Legenden nieder, zum Beispiel im »Rattenfänger von Hameln«. Immer wieder sind die Nager auch zu literarischen Ehren gekommen, etwa in der Tragikomödie »Die Ratten« (1911) von Gerhart Hauptmann, in dem sie für eine »unterminierte«, verfallende Gesellschaft stehen, oder in dem Roman »Die Rättin« (1986) von Günter Grass, wo sie — im Gegensatz zum Menschen — eher in einem positiven Licht erscheinen: Im von Neutronenbomben getroffenen Danzig haben allein die Ratten überlebt und bauen dort eine auf Solidarität gegründete neue Gesellschaft auf.
 
 
Norbert Benecke: Der Mensch und seine Haustiere. Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung. Stuttgart 1994.
 Gisela Bulla: Ratten. München 1998.
 Georg Gaßner: Ratten. Stuttgart 1998.
 Esther Verhoef-Verhallen: Kaninchen- und Nagetier-Enzyklopädie. Erlangen 1999.

Universal-Lexikon. 2012.

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